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Sonntag, 6. Juli 2014

Ángel Gris... Der Graue Engel von Flores


Wer der Graue Engel ist...?
Einführung hier. Lektüre des ersten Kapitels auf Spanisch hier.

Kapitel 1 - Die Träumeverteilung im Quartier Flores
Im Quartier Flores zu schlafen, ist eine bemerkenswerte Erfahrung. Wir wissen alle, dass dort sehr sonderbare Dinge geträumt werden. Die Ursachen dieses Phänomens wurden in Abhandlungen allerlei Autoren untersucht.
Die Meteorologen, Astrologen und Wundermittelverkäufer glaubten, die Angelegenheit damit zu erklären, dass die Himmelskörper und die Windeinwirkung starken Einfluss auf träumerische Gemüter ausüben.
Die Ärzte und Zahnklempner beharren darauf, die Schuld sei dem von Automobilen und Nacht für Nacht die Viertel abklappernden und den Mond mit Steinen beschmeissenden Rüpelbanden verursachten Lärm zuzuschreiben.
Selbstverständlich verführen diese Theorien die Sensiblen Männer nicht. Diese bevorzugen es, an die Verantwortlichkeit des Grauen Engels zu glauben. Und tatsächlich ist es kaum anzuzweifeln, dass der Engel vom Einbruch der Dunkelheit bis zum Morgengrauen Träume verteilt.
Einen vollen Korb hat er. Dort finden sich Träume für alle.
Träume in Rosa für die Naiven aus der Strasse Artigas. Träume in Weiss für die Kinder und Träume in Rot für die Zügellosen.
Träume gibt es von manch Erwachen durchlöchert. Träume gibt es ohne Träume, wie ein langes, schwarzes Band. Und abgenutzte Träume für die immer gleich Träumenden.
Frische Träume, reife Träume. Der Engel hat gute und schlechte Träume. Er hat einen so schrecklichen, dass derjenige, der nicht rechtzeitig erwacht, stirbt. Er hat einen anderen, der fünf Tage und fünf Nächte dauert. Und er hat einen Traum so kurz wie ein Seufzer: Wer ihn träumt, träumt, er seufze.
Der Graue Engel sucht Träume für jeden Einzelnen aus, der es wagt, in Flores zu schlafen.
Hingegen gibt es solche, die es wagen, diese unbestreitbare Tatsache abzustreiten. Ich meine die Bestreiter von Legenden, eine abscheuliche, rationalistische Sekte aus Villa del Parque.
Es handelt sich um schreckliche Individuen. Sie verbringen ihr Leben damit, sich alte Geschichten und Mythen erzählen zu lassen, um dann ihre Falschheit zu beweisen.
Jemand sagt ihnen: "In Flores gibt's einen Jungen, der fliegt. Er heisst Luciano." Aber anstatt in den Himmel zu schauen, beginnen sie unerbittlich zu räsonieren. "Die Menschen fliegen nicht. Luciano ist ein Mensch. Es folgt: Luciano fliegt nicht." Die Bestreiter von Legenden beschränken sich nicht darauf, zu beweisen, dass die Welt vernünftig und wissenschaftlich ist, sondern sie wünschen es sich auch. (Dies ist wahrscheinlich ihre schlimmste Sünde.)
Die Mitglieder dieser Gesellschaft unterhalten eine anhaltende Polemik mit den Sensiblen Männern von Flores und feinden sie mit perfekten Theoremen und olympischen Beweisführungen an. Doch die Sensiblen Männer glauben an keinen Grund, der sie nicht zum Weinen bringen würde und so furzen sie die Bestreiter von Legenden mit dem Mund an.
Doch in so vielen Jahren des Kampfes hat die Bestreitungsarbeit einige Erfolge erzielt. Die Kinder von Flores (insbesondere die im nördlichen Rivadavia leben) glauben fast nicht an Kobolde, Feen, Hexen, Oger und Gnome. Dies ist das Resultat der unablässigen Predigten der Bestreiter von Legenden während Pausen und nach dem Schulunterricht.
Man weiss, einige Kinder sind mit der schändlichen Einwilligung ihrer Eltern Teil der Sekte. Aber es ist auch wahr, dass viele Alte auf ihre Ämter verzichten: Wer die Mechanismen der Vernunft von Grund auf kennt, misstraut ihr schliesslich.
Die Bestreiter von Legenden glauben natürlich nicht an den Grauen Engel und - mehr noch - halten fest, es entspreche nicht der Wahrheit, dass in Flores anders geträumt würde.
Während langer Zeit hat man jegliche Erfahrung verwirklicht, um die wirkliche Natur der Träume von Flores zu ermitteln.
Die Bestreiter haben hunderte Male im Quartier geschlafen und sagen aus, sie hätten mehr oder weniger dasselbe wie in Villa del Parque geträumt.
Die Sensiblen Männer denken, es sei eben genau der Graue Engel, der für sie nichts sagende und gewöhnliche Träume auswähle, als Strafe.
Manuel Mandeb, ein Denker, dem zu misstrauen angebracht ist, ist Autor einer Monographie, in der einige interessante Träume aufgeführt werden. Schauen wir uns das an:
"Lange Zeit wurde der Dichter Julio C. Del Prete vom gleichen Traum verfolgt: Er sah sich selbst ein perfektes Gedicht schreiben. Die Worte erweckten in ihm unbeschreibliche Gefühle. Doch beim Erwachen erinnerte sich Del Prete nicht an das Gedicht. Eines Nachts hatte er den Einfall, sich mit Papier und Bleistift ins Bett zu legen. Als er das Gedicht träumte, strengte er sich enorm an und wachte weinend auf. Halb schlafend schrieb er die geträumten Wörter auf. Am nächsten Tag las er sie. Jedenfalls konnte niemand je die Form des perfekten Gedichts in Erfahrung bringen: Del Prete wurde verrückt und blieb stumm bis zu seinem Tod vierzehn Tage später...
"Jeden Montag träumt Professor Galeano, es sei Dienstag. Dienstags träumt er, es sei Mittwoch; mittwochs, es sei Donnerstag und donnerstags, es sei Freitag. Dies ruft bei ihm ein unsägliches Durcheinander hervor...
"Jede Nacht hört Frau de Pertot, wenn sie zu Bett geht, wie es an der Türe klingelt. Nur schafft sie es nie, aufzumachen, weil sie einen Augenblick später einschläft. Es besteht kein Zweifel: Es ist der Graue Engel, der klingelt...
"In einer Nacht des Jahres 1970 träumte der Würfelspieler Ricardo Salzman von der Nummer 18... Eine Weile später - in einem anderen oder demselben Traum - stellte sich ihm die Nummer 41 vor. Am nächsten Tag beschloss Salzman, alles, was er hatte, auf beide Zahlen zu setzen. Doch im letzten Augenblick, einer Inspiration folgend, setzte er einzig auf die 18. Es traf die 89..."
Manuel Mandeb zitiert tausendachthundert wirklich suggestive Fälle. Man muss jedoch zugeben, dass man nach der Lektüre seiner Monographie eher müde denn überzeugt ist.
Die Sensiblen Männer sagen, der Graue Engel begünstige seine Schützlinge mit guten Träumen und strafe mit Albträumen seine Feinde.
Doch die Sache ist die, dass der Graue Engel sehr spezielle Ideen darüber hat, was wünschenswert ist.
Er denkt zum Beispiel, die Melancholie sei eine grosse Sache und das Traurigsein wunderbar. So beschert er seinen düsteren Favoriten immer neue Tränen und Kummer jede Nacht. Deswegen gibt es so viele traurige Jünglinge und Tangobräute in Flores.
Eine Angelegenheit, die auch viel Diskussionsstoff liefert, ist die Route, der der Graue Engel folgt.
Es gibt solche, die behaupten, sie beginne in Nazca und Gaona und schreite Richtung Südosten fort. Andere versichern, der erste Traum liefere er in Boyacá und Avellaneda und der letzte - fast um sechs - in San Pedrito und Bilbao.
Die Bestreiter von Legenden folgern daraus, dass die Menschen in Flores in chaotischer Weise einschlafen und dass diese Unordnung die Inexistenz des Engels beweise. Es bleibt nur aufzuklären, dass die gegenwärtigste Strömung Sensibler Männer mit den Bestreitern darin übereinstimmt, dass die Leute jederzeit zu träumen anfangen, schreiben diese Tatsache jedoch den Launen des Grauen Engels zu, der - so scheint es - nachlässig und gar schmutzig ist.
Es fehlen in diesem fesselnden Fall nicht die eigennützigen und neidischen Meinungen.
Gewisse Einwohner von Belgrano haben es gewagt, die Träume dieses Quartiers mit denen von Flores zu vergleichen.
Das hält nicht der leichtesten Analyse Stand. Jeder, der in beiden Zonen geschlafen hat, kann bezeugen, dass die Träume, die der Geist von Belgrano verteilt, nicht im Geringsten lustig sind, einige sind schlichte Kopien der schon vom Grauen Engel erfundenen Träume.
Die Legende des Grauen Engels von Flores besagt, dass mit der Zeit die Träume länger und die Nachtwachen kürzer werden. Bis zu dem Tage, an dem das Quartier Flores nichts anderes als schlafen und träumen wird.
Und die Sensiblen Männer werden träumen, der Engel streichle sie mit seinen Flügeln, und die Bestreiter von Legenden werden träumen, sie seien wach und die Engel existierten nicht.




"El reparto de sueños en el barrio de Flores", Crónicas del Ángel Gris (Alejandro Dolina)
Übersetzung Jazmín Vázquez Ríos


Lectura del primer capítulo en su lengua original aquí.