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Samstag, 6. Oktober 2012

Horacio Vázquez-Rial

Vázquez-Rial, Horacio: Tango, der dein Herz verbrennt, Piper Verlag GmbH, München, 2011.

Hör-Rezension (deutsch): hier.

Leseprobe:
„Der Deutsche ließ eine traurige Musik erklingen, die keiner der Anwesenden irgendeiner Richtung hätte zuordnen können, und zog sie unendlich hin. Alle versanken in eine träumerische Stimmung und schwiegen.
Frisch wollte sie friedfertig, entwaffnet, allein: Er führte sie über eine Promenade aus tiefen Tönen, die wie Messerklingen zwischen ihnen niederfielen, sie voneinander trennten, ihre Bande durchschnitten, trieb sie dann hinauf in höhere Gefilde und entließ sie in unterschiedliche Richtungen. Er hörte auf zu spielen, als er sah, daß sie nicht mehr vereint waren, daß es für jeden von ihnen nur noch sein Bandoneon und ihn gab, daß sie auf seine Hände starrten oder den Blick in den Boden bohrten, aber einer im anderen weder Kumpanei noch Trost suchte.
Plötzlich, am Ende einer quälend langsamen Klangserpentine, die den Übergang in einen kristallklaren Rhythmus verhieß, hielt er inne und ließ sie dürstend zurück.“ (S. 219)

„Im selben Augenblick klangen aus dem Saal die ersten Takte einer alten, sehr alten Komposition herüber, nicht eigentlich ein Tango, etwas Tieferes, Feierlicheres, Ernsteres, eindeutig eine Trauermusik. Beide zögerten. Aarón Biniàs erkannte in dieser Melodie ein Omen. Was da mit der dunklen Stimme eines eisigen, fernen Europa angedeutet wurde, konnte nichts anderes sein. Ramón Díaz, der diese Musik fünfundvierzig Jahre zuvor, an die Hand seines Vaters geklammert, zum ersten Mal auf einer Strasse in Montevideo gehört hatte, als der Mann, der das Bandoneon umarmte, noch keinen Namen hatte, noch nicht Germán Frisch hieß, zwei, drei Minuten bevor der große blonde Mann für immer in sein Leben trat, fand er in ihr das durchdringende Aroma seiner eigentümlichen Kindheit einer nomadisierenden Waisen wieder, eine Mischung aus dem Weihrauchduft einer Kirche in Barcelona, dem Geruch der Bettwäsche in Don Manuel Posses Haus, dem der Hälmchen, die in den Rissen des Straßenpflasters im alten Buenos Aires sprossen, dem der Rossäpfel von Roques Pferd, dem des Tabaks bei der Verarbeitung, dem des Papiers in seinem ersten Buch, dem der Latrine im conventillo, dem Parfüm Teresas, dem Schweiß Mildreds: das Aroma der Vergangenheit, der Freiheit, des Lebens.“ (S. 540-541)